Praxisorientierte Forschung

Evidenzbasierung psychotherapeutischer Interventionen

Das Aufkommen der Evidenzbasierten Medizin Anfang der 1990er Jahre sorgte wenig später auch in der Psychotherapie für die Bestrebung, die Wirksamkeit bestehender Interventionen zweifelsfrei nachzuweisen. Dies ist zweifelsohne gelungen: die gängigen psychotherapeutische Verfahren sind wirksam bei der Behandlung fast aller psychischer Störungen.  Aussagen zur Evidenzbasierung psychotherapeutischer Verfahren beruhen auf Studien, die unter hoch kontrollierten Bedingungen durchgeführt wurden. Diese sind zur Feststellung der Wirksamkeit einer Intervention nötig, bilden jedoch häufig nicht den therapeutischen Alltag ab. Dies ist einer der Gründe für den Research-Practicioner-Gap: die von der Wirksamkeitsforschung vorgegebenen, evidenzbasierten Praktiken finden unter praktisch arbeitenden Psychotherapeut*innen kaum Verbreitung, weil sie als zu unflexibel erlebt werden und nicht zum eigenen Arbeitsstil und der klinischen Realität passen.

Bestrebungen der Personalisierung bestehender Behandlungen

Jahrzehnte der Wirksamkeitsforschung haben daher eine Vielzahl manualisierter psychotherapeutischer Verfahren zur Behandlung bestimmter Störungen hervorgebracht, deren Wirksamkeit gut belegt ist, sich jedoch kaum personalisieren lassen.

Einen Unterschied in der Wirksamkeit gibt es kaum, die meisten Patient*innen profitieren von allen in etwa gleich gut. Diese Verfahrensinflation sorgt für ein großes Angebot, jedoch ist bisher unklar, welche*r Patient*in von welchem Verfahren am meisten profitiert: die Wirksamkeitsnachweise gelten allein für den/die „Durchschnittspatient*in“. Aber auch hier profitieren 30% der Patient*innen nicht von ihrer Behandlung, bei ca. 10% nimmt die Belastung während der Therapie noch zu. Hinzu kommen frühzeitige Behandlungsabbrüche vor Erreichen des erwünschten Erfolges.

Aktuelle Entwicklungen der Forschung

Diese Probleme in der legen nahe, dass vorhandene evidenz-basierte Psychotherapien effektiver implementiert und noch optimiert werden sollten. Um die psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern, stellt die praxisorientierte Forschung eine wichtige Ergänzung der evidenzbasierten Praxis dar.

Vorgaben für die Behandlung werden nicht aus kontrollierten Studien abgeleitet. Stattdessen bezieht die praxisorientierte Forschung ihre Datenbasis direkt aus dem klinischen Alltag. So lassen sich systematische Informationen gewinnen, die klinische Entscheidungen stützen können. Die Psychologie kann sich hier auf eine lange Tradition berufen: schon 1954 legte Paul Mehl eine überzeugende Arbeit vor, die zeigte, dass sich die medizinische und psychotherapeutische Praxis deutlich verbessern lässt, wenn sie durch datenbasierte Entscheidungshilfen unterstützt wird. Durch die praxisbasierte Forschung hat die Umsetzung von Meehls Gedanken begonnen und wird seit einigen Jahren unter der Bezeichnung precision mental health fortgeführt. Verbesserungen in der statistischen Methodik und eine durch technische Neuerungen erleichterte Erhebung und Auswertung haben die praxisorientierte Forschung weiter voran gebracht.

Die Fragen, die die evidenzbasierte Psychotherapie offen lässt, sollen dabei beantwortet werden. Ihre Beiträge führten zu folgenden Errungenschaften:

  • Die bestmögliche Intervention für den/die individuelle Patient*in kann durch statistische Algorithmen gefunden werden, die mit Daten aus der Routineversorgung arbeiten. 
  • Die frühzeitige Erkennung ungünstiger Therapieverläufe kann mit Hilfe von Monitoring-Systemen gewährleistet werden. Im fall negativer Entwicklungen können therapeutische Techniken empfohlen werden, die in ähnlichen Situationen hilfreich waren.
  • Statt eine ganze Psychotherapie im voraus zu planen, können adaptive Entscheidungsregeln Therapeut*innen während einer laufenden Therapie die passende Intervention vorschlagen.
Praxis-Forschungsnetzwerk

An der Erweiterung und Erprobung dieser Methoden wird auch an der Universität Greifswald gearbeitet. Zur Umsetzung dieser Forschungsansätze haben wir ein Praxis-Forschungsnetzwerk gebildet. Es besteht aus den psychosomatischen Schön-Kliniken in Deutschland, der Philipps-Universität Marburg und der Universität Greifswald sowie dem dort ansässigen Zentrum für Psychologische Psychotherapie (ZPP).

Im Rahmen dieses deutschlandweit etablierten Praxis-Forschungsnetzwerkes untersuchen wir stationäre und ambulante Psychotherapiekonzepte unter Nutzung verschiedener statistischer Verfahren, um Ansatzpunkte zur Optimierung zu identifizieren und eine effektivere Implementierung von evidenz-basierten Psychotherapien zu ermöglichen.

Dazu zählen sowohl datengetriebene, theoretisch agnostische Datenanalysemethoden aus Machine-Learning-Algorithmen als auch theorie-getriebene Modelle, die mechanistisch interpretierbare Beziehungen zwischen Variablen mathematisch spezifizieren (oft einschließlich sowohl beobachtbarer Variablen als auch postulierter, theoretisch sinnvoller verborgener Variablen, z. B. durch Bayesianische Statistik). Zusätzlich untersuchen wir, ob sich durch die computergestützte Auswertung auf Video aufgezeichneter Therapiesitzungen Aussagen über den Therapieerfolg machen lassen. Hierbei kommen Techniken der Bewegungsenergieanalyse (motion energy analysis, MEA) zum Einsatz, mit der sich zum Beispiel die Synchronität der Bewegungen von TherapeutIn und PatientIn messen lässt. Diese Körpersynchronität hat sich in aktuellen Pilotstudien als starker Prädiktor für den Therapieerfolg und als Korrelat einer positiven therapeutischen Beziehung erwiesen.

Das Herzstück unserer praxisorientierten Forschung bildet das „Greifswalder Psychotherapie Navigator System (GPNS)“, welches unseren Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten konkrete und vor allem evidenzbasierte Handlungsempfehlungen für die Auswahl und Anpassung ihres psychotherapeutischen Vorgehens an die Hand geben soll.