G
E H I R N & G E I S T 66 0
1 _ 2 0 2 1
MEDIZIN
MENTALISIEREN Jeder
von uns sucht Erklärungen für das Verhalten seiner Mitmenschen. Bei psychischen
Störungen sind die daraus resultierenden Annahmen jedoch oft zu starr. Die Mentalisierungsbasierte Thrapie
(MBT) kann hier helfen.
Flexibler denken
Von MARISA LEU, AMELIE MÖHRING-GEISLER UND SVENJA TAUBNER
UNSERE
AUTORINNEN
Marisa Leu und Amelie
Möhring-Geisler studieren Psychologie an der Universität Greifswald, wo sie
im Rahmen eines Seminars bei Eva-Lotta Brakemeier, Professorin für Klinische
Psychologie und Psychotherapie, diesen Beitrag mit Svenja Taubner verfassten. Sie ist Professorin für
Psychosoziale Prävention an der Universität Heidelberg und eine der
international führenden Expertinnen für Mentalisierungsbasierte
Thrapie.
Auf einen Blick: Die
Kunst des Perspektivenwechsels
1 Um uns das
Verhalten anderer zu erklären, greifen wir häufig und meist intuitiv auf
Annahmen über deren Gedanken und Motive zurück. Diese Fähigkeit, sich in den
Kopf eines anderen zu versetzen, heißt »Mentalisieren«.
2 Das Mentalisierungsvermögen entwickelt sich bereits ab der
frühen Kindheit. Es wird erschwert, wenn Bezugspersonen die kindlichen Gefühle
nicht spiegeln oder systematisch verzerrt interpretieren.
3 Die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) versucht, dies zu
beheben und flexible Deutungen einzuüben. Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung
sowie anderen seelischen Problemen zeigt sie gute Erfolge.
Stellen
Sie sich vor, Sie sind mit Freunden unterwegs und verbringen gemeinsam einen
schönen Abend. Plötzlich verabschiedet sich einer aus der Gruppe mit knappen
Worten und geht. Ihnen fällt auf, dass derjenige bereits die ganze Zeit
ungewöhnlich still gewesen ist. Vielleicht fragen Sie sich: »Hat er was? Hat
jemand in der Runde etwas Falsches gesagt? Oder belastet den Freund womöglich
etwas, von dem ich nichts weiß?« In diesem Moment tun Sie, was die britischen Psychoanalytiker
Peter Fonagy und Mary Target als »mentalisieren«
bezeichnen. Sie denken über die Beweggründe für Ihr eigenes oder das Verhalten
anderer Menschen nach. Wer mentalisiert, sucht nach
Motiven und Erklärungen, und die vermuten wir zumeist in mentalen Prozessen wie
Gefühlen oder Überzeugungen. Vereinfacht ausgedrückt, verleiht das Mentalisieren unserem oder fremdem Handeln Sinn.
Wenn Sie zum
Beispiel wissen, dass Ihr Freund gerade eine schwere Zeit durchmacht, weil ihn
seine Freundin sitzen ließ oder weil er seinen Job verlor, dann wird Ihnen sein
vorzeitiges Verlassen der Runde eher verständlich und nachvollziehbar
erscheinen. Wir mentalisieren ständig, auch ohne es
zu bemerken; es handelt sich um eine Art psychische Grundausstattung.
Da Mentalisieren jedoch Energie kostet, reflektieren wir nur
dann bewusst, wenn wir müssen. Hätte der Freund beim Verabschieden etwa gesagt,
dass er am nächsten Tag einen wichtigen Vortrag halten muss, hätten Sie sich
alle weiteren Erklärungsversuche sparen können. Wer trotzdem fieberhaf nach weiteren Begründungen sucht, gerät schnell
ins Überinterpretieren oder »Hypermentalisieren«.
Mit anderen Worten:
Die Fähigkeit allein führt im Alltag nicht immer zum Ziel. Manchmal können wir einfach
nicht entscheiden, was genau hinter dem Tun eines anderen steckt. Hat Ihnen der
Arbeitskollege eine wichtige E-Mail aus Boshaftigkeit nicht weitergeleitet, oder
hat er es nur vergessen? Wenig später entdecken Sie die fragliche Botschaft
womöglich in Ihrem SpamOrdner – und beide Erklärungen
fallen wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Mitunter sind wir
uns der feindseligen Absicht des anderen allerdings so sicher, dass Wut und
Empörung in uns aufsteigen. Einen solchen Zustand, in dem wir überzeugt sind,
dass unsere Gedanken und Gefühle auf jeden Fall zutreffen und berechtigt sind,
nennen Fonagy und sein Team den »Äquivalenz-Modus«.
Er ist ein weiteres gutes Beispiel für ineffektives Mentalisieren.
Äquivalent, also
gleichbedeutend oder deckungsgleich, wird in diesem Fall unsere eigene
Innensicht (was wir über den Kollegen denken) mit der Außensicht (was der
Kollege wirklich tat). Mitunter schenken wir unserer Innensicht absoluten
Glauben: So, wie ich die Welt gerade erlebe, muss es sein! Im Äquivalenz-Modus
befinden wir uns alle von Zeit zu Zeit. Häufig kommt das in Stresssituationen
vor, in denen wir schnell enttäuscht, traurig oder zornig sind. Dann gelingt es
uns kaum, die Perspektive des anderen einzunehmen oder alternative Erklärungen
in Betracht zu ziehen. Unser Denken ist in solchen Momenten eingeengt und
starr.
Während die
Fähigkeit zu mentalisieren, diese wichtige Grundlage
gelingender Beziehungen, bei Gesunden nur in gewissem Rahmen schwankt, ist sie
bei Menschen mit psychischen Störungen, insbesondere mit Persönlichkeitsstörungen,
meist dauerhaft oder systematisch eingeschränkt. Für die Betroffenen
entwickelte Fonagy gemeinsam mit seinem Kollegen
Anthony Bateman am University College London die Mentalisierungsbasierte
Therapie (MBT). Ihr Hauptziel: die Mentalisierungsfähigkeit
fördern und damit einen wichtigen persönlichen Entwicklungsschritt nachholen.
Denn wie viele
Psychoanalytiker gehen Bateman und Fonagy davon aus,
dass Erfahrungen in der Kindheit dieses Vermögen entscheidend beeinflussen.
Seine Wurzeln reichen bis ins Säuglingsalter zurück, wenn das Kind und seine
Bezugsperson miteinander in Kontakt treten.
Nehmen wir an, ein
Neugeborenes wacht auf und beginnt zu schreien. Die Mutter kommt herbei, nimmt
es in den Arm und beruhigt es. Vielleicht sagt sie etwas wie »Schsch … alles gut. Du hast dich bestimmt erschreckt, weil
du hier allein aufgewacht bist, aber ich bin bei dir« – und wiegt das Kind
sanft.
Diese Szene ist
längst nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick erscheint. Ein Kind lernt
aus solchen Situationen nämlich nach und nach sehr viel. Mit Hilfe der Ammensprache
spiegelt die Mutter dem Kind sein Gefühl zurück. Sie tut das in einer Art und
Weise, die ihm deutlich macht, dass es selbst und nicht die Mutter erschrocken
oder ängstlich ist. Die Bezugsperson »markiert« also das Gefühl als dem Kind
zugehörig.
Gefühle erklärlich und erträglich machen
Dadurch, so die Annahme, bildet das Kind allmählich ein
Konzept des eigenen Selbst. Zugleich unterstützt das Wiegen und das beruhigende
Sprechen eine frühe Form der Gefühlsregulation. Die Bezugsperson »verdaut«
sozusagen stellvertretend die Gefühle des Babys, macht sie unschädlich und gibt
sie ihm in erträglicherer Form zurück. Zudem erwirbt das Kind so ein Vokabular
für die eigenen inneren Zustände (»Wenn ich mich so fühle, nennt man das
Angst«) und bekommt ein Gespür dafür, wie es auf diese Zustände einwirken kann (»Wenn
ich schreie, kommt jemand und beruhigt mich«).
Gemäß der Mentalisierungstheorie haben Menschen mit psychischen
Störungen eine solche »markierte Affektspiegelung« oft nur eingeschränkt oder
verzerrt erfahren. Bei fehlender Affektspiegelung reagiert die Bezugsperson gar
nicht auf Äußerungen des Kindes. Es kann seine Gefühle somit nicht einordnen
und auch nicht regulieren. Zurück bleibt eine ebenso unerklärliche wie
unkontrollierbare Anspannung.
Ähnliches tritt bei
der »unmarkierten Affektspiegelung« auf: Hier spiegelt die Bezugsperson zwar
die Gefühle des Kindes, lässt sich aber selbst davon anstecken.
Wem es an
emotionaler Sicherheit mangelt, der orientiert sich oft übermäßig am Verhalten
anderer und fühlt sich schnell angegriffen
Zeigt die Mutter
beispielsweise ebenso viel Angst wie das Kind, findet keine effektive
Regulation statt. Außerdem fällt es dem Kind dann schwer, zwischen sich und anderen
zu unterscheiden, denn es lernt, dass sich die eigene Angst auf andere
überträgt.
Von verzerrter Affektspiegelung
schließlich spricht man, wenn die Gefühle des Kindes von der Bezugsperson
fehlinterpretiert werden. Beispielsweise ist eine Spiegelung nicht schlüssig,
wenn die Eltern Schmerz als Hunger missverstehen und anfangen, das Kind zu
füttern, obwohl das gar nicht das Problem ist. Eine solche Reaktion erschwert
es dem Kind auf lange Sicht, seine Gefühle zu regulieren und die Grenzen
zwischen sich und anderen abzustecken. Dauerhaft untergraben wird das Mentalisieren durch frühe traumatische Erfahrungen, wenn
ein Kind nicht erlebt, dass seine Fürsorgeperson es als denkendes und fühlendes
Wesen spiegelt und respektiert.
Auch wenn eine
seelische Verletzung in der Kindheit, etwa durch den Verlust eines Elternteils
oder Gewalterfahrungen, nicht ausreichend anerkannt und aufgefangen wird
(Psychologen sprechen hier von »validieren«), kann es der betreffenden Person
im Erwachsenenalter an emotionaler Sicherheit mangeln. Sie orientiert sich dann
oft übermäßig stark am Verhalten anderer und fühlt sich schnell angegriffen,
statt zu mentalisieren. Zudem haben manche dieser
Menschen sehr rigide Vorstellungen davon, wie andere ihnen gegenüber agieren
sollten.
Borderline-Störung
als erstes Einsatzfeld
Sind während der frühkindlichen Entwicklung solche Hemmnisse
für die Mentalisierungsfähigkeit entstanden, können
sie mit Hilfe der MBT therapeutisch angegangen werden. Die Methode wurde
ursprünglich für eine bestimmte psychische Störung konzipiert, nämlich die BorderlinePersönlichkeitsstörung, die durch ungünstige
Kommunikations- und Bindungsmuster in der Kindheit gefördert wird. Die Betroffenen
erleben heftige Stimmungsschwankungen und werden von plötzlich auftretenden
intensiven Emotionen wie Angst, Wut oder auch Freude überwältigt. Mal leiden
sie unter der daraus resultierenden Anspannung, dann wieder unter einem Gefühl
der inneren Leere.
Die therapeutische
Haltung in der MBT ist durchweg
empathisch, neugierig und nachfragend
Häufig handeln Borderline-Betroffene extrem impulsiv oder zeigen andere
auffällige Verhaltensweisen wie Selbstverletzung (»Ritzen«) oder
Substanzmissbrauch. Auf diese Weise versuchen sie, ihre Anspannung abzubauen
oder überhaupt etwas zu spüren – selbst wenn es Schmerz ist. Sie erleben
intensive zwischenmenschliche Beziehungen, die meist jedoch ebenso instabil
sind wie ihr eigenes Selbstbild. Nahe Bezugspersonen werden anfangs stark
idealisiert und dann abgewertet. Diese Betroffenen haben ein hohes Suizidrisiko
und sind sozial oft schlecht integriert.
In solchen Fällen
trainiert man die Mentalisierungsfähigkeit, um einen
»mentalen Puffer« zu schaffen, der es denjenigen erlaubt, ihre Annahmen etwa
über die Handlungsabsicht eines anderen zu überdenken. Um das Anfangsbeispiel
aufzugreifen: Eine Person mit BorderlinePersönlichkeitsstörung
könnte sich durch einen Freund, der einfach geht, plötzlich verlassen und
verletzt fühlen. Die Freude über den gemeinsamen Abend weicht der bitteren
Gewissheit, enttäuscht worden zu sein – wie schon viele Male zuvor.
Möglicherweise will die Person vor lauter Wut den Freund anrufen und ihn zur
Rede stellen. Häufig führt das jedoch zu einer weiteren Eskalation, an deren
Ende impulsive Gefühlsausbrüche stehen.
Innerlich distanzieren statt
überwältigt werden
Eine gute Mentalisierungsstrategie
würde es in diesem Moment erlauben, innerlich einen Schritt zurückzutreten.
Durch den Perspektivenwechsel (»Was könnte den Freund noch bewogen haben,
wortlos zu gehen? Hat das Verhalten wirklich mit mir zu tun?«) werden die
eigenen Gefühle spürbar, ohne dass die betreffende Person von ihnen überwältigt
wird. Sie könnte so etwa zu dem Schluss kommen: »Das war keine gute
Verabschiedung, beim nächsten Treffen frage ich mal nach, was
los war.«
Ein zentrales
Werkzeug der MBT ist die Beziehung zwischen Klient und Therapeut. Die Mentalisierungsfähigkeit ist schließlich etwas, was wir nur
zusammen mit anderen Personen entwickeln. Deshalb kann sie auch am besten in
einer Beziehung trainiert werden. Im Fokus stehen dabei Gefühle, die zwischen
den Beteiligten entstehen. Das kann Ärger über eine abgesagte Therapiestunde
sein oder Misstrauen bezüglich einer bestimmten Nachfrage. Die MBT konzentriert
sich immer auf den gegenwärtigen Moment; es geht also nicht um das Ausdeuten
vergangener biografischer Ereignisse, wie man es zum Beispiel in der
klassischen Psychoanalyse praktiziert.
Die therapeutische
Haltung in der MBT ist durchweg empathisch, neugierig und nachfragend. Mit anderen
Worten: Die Therapeutin oder der Therapeut agiert von einem Standpunkt des
Nichtwissens aus – es ist ja tatsächlich nicht gesagt, ob ihre Annahmen über
das Erleben des Klienten stimmen. Der Behandelnde wird somit selbst zum
Rollenmodell für die Art des Mentalisierens, die dem
Gegenüber nahegebracht werden soll. Im Fall einer BorderlinePersönlichkeitsstörung
könnte das Therapiegespräch etwa so ablaufen:
Patient: »Dieser
Idiot! Der weiß doch ganz genau, wie wichtig mir diese gemeinsamen Abende sind.
Ich hätte echt nicht erwartet, dass er einfach abhaut. Aber wahrscheinlich bin
ich ihm einfach egal. Und wie es mir damit geht, interessiert ihn überhaupt
nicht. Der hat doch nur darauf gewartet, mich fallen zu lassen wie eine heiße
Kartoffel. Und wissen Sie, eigentlich ist er mir auch egal. Solche Menschen
habe ich schon zu Genüge kennen gelernt. Der kann mir gestohlen bleiben.« (Das
beschreibt den psychischen ÄquivalenzModus.)
Therapeut: »Ich kann Ihre Enttäuschung nachvollziehen. Das muss schwierig
für Sie sein, wenn Sie sich plötzlich so verlassen fühlen.« (Die
Bestätigung der Gefühle des Patienten nennt man in der MBT »empathische
Validierung«.)
P: »Ja, das hätte ich ihm nie zugetraut.«
T: »Was macht Sie so sicher, dass es Ihrem Freund egal war, wie es Ihnen
damit geht?« (Hier wird die psychische Äquivalenz angesprochen.)
P: »Na, er ist ja ohne ein Wort einfach verschwunden. So etwas macht man
doch nicht.«
T: »Wie haben Sie sich denn im Nachhinein das Verhalten erklärt?« (Versuch,
die Perspektive zu erweitern)
P: »Hm. Jetzt, wo Sie es sagen. Er hat sich in letzter Zeit viele Sorgen um
seinen Vater gemacht. Der wurde letzte Woche ins Krankenhaus eingeliefert.
Vielleicht hat er ja etwas Neues erfahren und wollte uns nicht den Abend
verderben. Er war auf jeden Fall ziemlich blass, als er losgefahren ist.«
T: »Wie geht es Ihnen jetzt, wenn Sie mit mir darüber sprechen?«
P: »Ich glaube, dass ich gestern wieder in das SchwarzWeiß-Denken
gefallen bin. Jetzt kann ich mir vorstellen, noch mal nachzufragen, was los
war. Aber ich bin trotzdem sauer, dass er mich so im Ungewissen
gelassen hat.«
T: »Das kann ich sehr gut verstehen, das würde jeden verunsichern.« (Das
affektive Erleben des Patienten wird eingeordnet und »normalisiert«.)
Inzwischen gibt es
sowohl eine Reihe von randomisierten, kontrollierten Wirksamkeitsstudien sowie
mehrere Überblicksarbeiten, die zeigen, dass Erwachsene mit BorderlinePersönlichkeitsstörung
von der MBT profitieren. Beispielsweise nehmen bei den Betroffenen etwa die Suizidneigung,
die Rate der Neueinweisung in psychiatrische Kliniken sowie allgemein die
Symptome ab. Auch bei Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten geht das
»Ritzen« nach einer solchen Behandlung messbar zurück.
Eine achtjährige
Verlaufsstudie von Bateman und Fonagy ergab zudem,
dass Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung
nach einer MBT ein stabileres soziales Netzwerk aufbauen und sich eher wieder
in den Beruf eingliedern können. Für Menschen mit mehreren psychischen
Störungsbildern (Komorbidität) gibt es ebenfalls viel versprechende Ergebnisse:
So können auch komplexere Fälle – etwa Borderline in
Kombination mit Sucht, Essstörungen oder antisozialem Verhalten – erfolgreich
behandelt werden. Das ergab eine Auswertung aller 14 seit 2015 erschienenen MBT-Studien
die eine von uns (Taubner) gemeinsam mit Jana Volkert
und Sophie Hauschild veröffentlichte.
Ein Dachverband für MBT in Deutschland
soll 2021 entstehen
Auf Grund der aktuellen Studienlage gilt die MBT (neben
der DialektischBehavioralen Thrapie)
laut den offiziellen Behandlungsleitlinien als empfehlenswerter Ansatz bei Borderline-Fällen. In Deutschland nutzen bereits einige
Psychotherapeuten sowie Kliniken die MBT zur Behandlung von
Persönlichkeitsstörungen. Eine modifiierte, deutsche
Fassung des MBTHandbuchs für Psychotherapeuten hat
Svenja Taubner mit Peter Fonagy
und Anthony Bateman im Jahr 2019 veröffentlicht (siehe Literaturtipp unten).
2021 wird voraussichtlich ein eigener Dachverband für MBT in Deutschland gegründet,
der dann auch erstmals Ausbildungskurse in deutscher Sprache anbietet.
Es gibt erste
Bemühungen, die Therapieform auf die Behandlung anderer psychischer Störungen
zu übertragen. Aktuell läuft in England eine große Studie zur MBT bei Menschen
mit antisozialer Persönlichkeitsstörung wobei eine reine Gruppentherapie statt
der meist üblichen Kombination von Einzel und Gruppensetting zum Einsatz
kommt. Am Universitätsklinikum Heidelberg steht eine erste Machbarkeitsstudie
zur MBT bei Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens kurz vor dem
Abschluss. Hierfür wurden rund 30 Jugendliche jeweils ein Jahr in Einzel und
Familientherapie ambulant behandelt. Weitere MBTAnsätze
existieren für Suchterkrankungen, Psychosen und Essstörungen.
Unklar ist noch, ob
die positiven Effekte der MBT tatsächlich durch eine Veränderung der Mentalisierungsfähigkeit erzielt werden, also durch einen
sozialen Lernprozess, oder eher durch allgemeine Faktoren wie eine gute
therapeutische Beziehung oder die Hoffnung auf Veränderung. Erste Studien
zeigen jedoch, dass eine verbesserte Mentalisierungsfähigkeit
den Therapieerfolg bei Persönlichkeitsstörungen tatsächlich nachhaltig stärkt.
Dies ist allerdings auch bei anderen Therapieformen der Fall, nicht nur in der
MBT. Fonagy und Target glauben daher, eine implizite
Förderung der Mentalisierungsfähigkeit liege der
Wirksamkeit vieler Therapien zu Grunde. »Die aufmerksame Beachtung und Reflexion
des eigenen psychischen Zustands und der psychischen Verfassung anderer
Menschen ist der grundlegende gemeinsame Faktor psychotherapeutischer
Behandlung.«
Ob grundlegender
Faktor oder »nur« ein Beitrag von vielen – das Konzept des Mentalisierens
ist sicherlich ein Ansatz, der zu einem besseren Verständnis von psychischen
Störungen und ihrer Entstehung beiträgt. Es ist ein nützlicher Baustein, um die
psychische Gesundheit und gelingende Beziehungen zwischen Menschen zu fördern.
L
I T E R A T U R T I P P
Taubner,
S. et al.: Mentalisierungsbasierte Thrapie. Hogrefe, 2019.
Aktueller Überblick zur Praxis und Wirksamkeit der MBT
Q U E L L E N
Allen, J. et al.: Mentalisieren in der
psychotherapeutischen Praxis. Klett-Cotta, 2011
Fonagy, P.: Affktregulierung,
Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Klett-Cotta, 2004
Storebø, O. J. et al.: Psychological therapies for
people with borderline personality disorder.
Cochrane Database of Systematic Reviews 5, 2020
Volkert, J. et al.: Mentalizationbased
treatment for personality disorders: Efficy, effctiveness,
and new developments. Current
Psychiatry Reports 21, 2019
Dieser Artikel im Internet:
www.spektrum.de/artikel/1791275