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MEDIZIN
CHRONISCHE DEPRESSION In einer CBASP-Therapie reflektiert
man zwischenmenschliche Reaktionen und Beziehungsmuster.
Dies hilft besonders Menschen, die in ihrer Kindheit vernachlässigt oder missbraucht wurden.
Die Mauer überwinden

Von JESSICA ASELMEYER, ISABEL HÖHR UND EVA-LOTTA BRAKEMEIER
UNSERE EXPERTINNEN
Jessica Aselmeyer und Isabel Höhr studierten
Psychologie an der Universität Greifswald und absolvieren der-
zeit eine Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin.
Eva-Lotta Brakemeier ist Professorin für Klinische Psychologie
und Psychotherapie an der Universität Greifswald und Direktorin
des dortigen Zentrums für Psychologische Psychotherapie.


Auf einen Blick: Die eigenen Prägungen analysieren und verändern

1CBASP (kurz für Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy) ist eine von James McCullough speziell für chronische Depression entwickelte Behandlungsform
2 Im Zentrum steht dabei die Beziehungsarbeit zwischen Patient und Therapeut sowie das Erkennen, Besprechen und Verändern früh erworbener sozialer Prägungen
3Laut mehreren Wirksamkeitsmit chronischer Depressionstudien hilf CBASP Menschen- im Schnitt gut – vor allem bei früh-kindlichen Traumata.

Julia erlebt immer wieder Phasen, in denen sie sich zu nichts aufraffen kann. Selbst aus dem Bett aufzustehen und sich anzuziehen, fällt der 30-jährigen Studentin und allein erziehenden Mutter dann extrem schwer. Nicht einmal das Lächeln ihres kleinen Sohnes Max kann sie erheitern. Solche wiederkehrenden Tiefs kennt sie bereits seit dem Teenageralter. Sie fühlt sich dann wie hinter einer Mauer, nichts kommt an sie heran.

Die meisten Menschen sind ab und zu niedergeschlagen oder antriebslos. Doch bei vier bis fünf Prozent der Bevölkerung sind die Symptome derart schwer und dauerhaft, dass Fachleute eine Depression diagnostizieren. Bei etwa jedem dritten Betroffenen halten die Beschwerden länger als zwei Jahre an, in diesem Fall gelten sie als chronisch (siehe »Kurz erklärt«). Weltweit betrifft das rund 100 Millionen Menschen.

Der US-amerikanische Psychotherapeut James McCullough arbeitet seit den 1970er Jahren mit Menschen, die an chronischer Depression leiden. Da er schon früh bemerkte, dass traditionelle Behandlungsverfahren diesen Patienten kaum halfen, entwickelte er einen eigenen Ansatz, den er als »Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy« bezeichnete, kurz CBASP (zu Deutsch etwa: kognitives verhaltensbezogenes Analysesystem der Psychotherapie). Dieser setzt gezielt bei den Problemen von Menschen mit einer chronischen Depression an und kombiniert verschiedene Therapieformen und Theorien miteinander. Dazu zählen Ideen aus der Entwicklungspsychologie, der Psychoanalyse, der interpersonellen Schule, der Lerntheorie ebenso wie aus der kognitiven Verhaltenstherapie.

Julia wurde als Kind emotional missbraucht und vernachlässigt. Sie erinnert sich gut daran, wie ihre Mutter sie stets harsch zurechtwies, wenn sie einmal weinte. Liebe und Fürsorge erfuhr sie kaum. Über ähnliche Erlebnisse berichten viele Menschen mit chronischer Depression. Die Erkrankung wird durch frühe Traumatisierungen begünstigt, die das Denken und Handeln der Betreffenden häufig tief greifend prägen. Dabei kann es sich um körperliche oder emotionale Vernachlässigung oder Missbrauch, seltener auch um sexualisierte Gewalt oder um Verlusterfahrungen handeln. Wachsen Kinder in derart unsicheren Umwelten auf, gelangen sie nicht
selten zu der Überzeugung, andere wollten ihnen schaden oder sie ausnutzen und sie selbst seien nicht liebenswert. Um sich vor Verletzungen zu schützen, bauen sie häufig früh eine Art Mauer zwischen sich und der Umwelt auf. Dieses Gefühl des »Abgetrenntseins« kann mit Einsamkeit, Trauer, Wut, Verzweiflung oder tiefer Hoffungslosigkeit einhergehen.
Schwach ausgebildete soziale Fähigkeiten
Unter diesen Bedingungen können sich ebenso die zwischenmenschlichen Fähigkeiten schlecht ausbilden. Die Betreffenden meiden im späteren Erwachsenenalter soziale Kontakte und haben Schwierigkeiten, die Signale ihrer Mitmenschen richtig zu deuten und deren Gefühle nachzuempfinden. Bietet etwa ein Freund oder Kollege Hilfe an, können sie es oft nicht annehmen oder übersehen es, weil es nicht ihrer eigenen negativen Erwartung entspricht. Auf Grund der Kindheitserfahrungen dominiert Misstrauen, da die erlernten Muster (meist unbewusst) auf andere übertragen werden.

Ebenso nehmen viele Menschen mit chronischer Depression kaum wahr, wie sie auf andere wirken. Sie erscheinen oft abweisend, desinteressiert oder feindselig. Ein weiteres Problem ist, dass sie meist nicht gelernt haben, adäquat »Nein« zu sagen oder eigene Wünsche selbstsicher zu artikulieren. All dies fördert Misserfolge in Beziehungen, welche deswegen gemieden werden, was die Depression letztlich verstärkt. Ein Teufelskreis entsteht.

Auch Julia hat als Folge der emotionalen Vernachlässigung in ihrer Kindheit immer wieder Probleme, soziale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Im Rahmen einer CBASP-Therapie können spezielle Techniken helfen, die Konsequenzen des depressiven Verhaltens besser zu erkennen und neue Strategien einzuüben.

Eine Strategie, die am Beginn jeder CBASP-Therapie steht, ist die »Liste prägender Bezugspersonen«. Betroffene stellen eine Liste der Menschen zusammen, die sie besonders beeinflussten und eine Prägung oder Spur in ihrem Leben hinterließen. Ausgehend von der Frage »Wie war es für Sie, mit xy zusammen zu sein?« reflektiert der Patient unterstützt vom Therapeuten seine Prägung durch jede Bezugsperson. Dann überlegen beide gemeinsam, welche Befürchtungen der Patient auf Grund seiner Prägungen auch gegenüber dem Therapeuten hat. Diese Übertragungshypothesen werden als Wenn-dann-Sätze formuliert. Sie kommen besonders in Situationen zum Ausdruck, die die jeweilige Prägung reaktivieren. Ein Hauptziel der CBASP-Therapie besteht darin, solche früh entstandenen Annahmen durch neue korrigierende Erfahrungen zu überschreiben.

Julia erinnert sich, dass sie von ihrer Mutter nur dann Aufmerksamkeit erhielt, wenn sie eine gute Schulnote bekam. Sonst hat ihre Mutter sie meist ignoriert und kaum liebevoll behandelt. Aus dieser Erfahrung entstand daher die Prägung »Ich bin nur dann etwas wert, wenn ich sehr gute Leistungen bringe. Daher bemühe ich mich, alles sehr gut zu machen.« Eine ähnliche Prägung hinterließ ihre Oma, von der Julia beim kleinsten Malheur bestraf wurde: »Wenn ich einen Fehler mache, werde ich abgelehnt. Deshalb bemühe mich, stets perfekt zu sein.«

Mit ihrer Therapeutin hat Julia die Übertragungshypothese »Wenn ich in der Therapie einen Fehler mache, wird meine Therapeutin mich ablehnen« herausgearbeitet. Beinahe jedes Mal, wenn sie sich in einer Sitzung unter Druck fühlt, wird diese Übertragungshypothese aktiviert. Julia hat fast immer Angst, dass andere sie ablehnen, wenn sie etwas falsch macht. Jetzt begreif Julia auf einmal, »woher das kommt«. Sie hat nun eine Erklärung für ihren Perfektionismus und ihre Versagensängste.

Das Besondere an CBASP ist die Beziehungsgestaltung. Die Therapeutin arbeitet mit Julia aus einer Haltung des »disziplinierten persönlichen Einlassens«. Das heißt, sie meldet offen zurück, wie Julia auf sie wirkt, und offenbart ihre Gefühle in der gegebenen Situation. So kann Julia ihr eigenes Verhalten und die Folgen beim Gegenüber besser einzuschätzen lernen. Hierbei stehen der Therapeutin vor allem zwei Techniken zur Verfügung: die kontingente persönliche Reaktion und die interpersonelle Diskrimination.
Freundlichkeit statt Zurechtweisung
Beide Techniken setzt die Therapeutin ein, als Julia erstmalig zu spät zu einer Sitzung erscheint. Sie betritt mit hochroten Kopf das Zimmer, entschuldigt sich mehrfach und erzählt, dass sie im Stau stand. Die Therapeutin fragt, was Julia glaubt, wie es ihr selbst jetzt gehe – was Julia überrascht. Auf die Bitte, sie anzuschauen und in dem Gesicht zu lesen, wie es ihr wohl gerade geht, erwidert die junge Frau: »Eigentlich sehen Sie ganz freundlich aus. Sind Sie gar nicht sauer auf mich?« Auf Grund ihrer Prägungen hat Julia erwartet, von der Therapeutin zurechtgewiesen zu werden. Diese reagiert jedoch ganz anders und erklärt, es könne jedem mal passieren, im Stau zu stehen. Sie sei froh, dass Julia jetzt angekommen sei (kontingente persönliche Reaktion).

Nun kann die Therapeutin die interpersonelle Diskriminationsübung einsetzen. Sie fragt Julia, wie ihre Mutter früher reagierte, wenn sie zu spät gekommen sei. Julia entgegnet, ihre Mutter sei in solchen Situationen immer wütend geworden und habe sie angeschrien. Gemeinsam erarbeiten beide, wie sich die Reaktion der Mutter von der der Therapeutin unterscheidet. Indem sie den Kontrast besprechen, wächst in Julia ein Gefühl von Erleichterung und Sicherheit. Sie beginnt zu lernen, dass sie Fehler machen darf, ohne von anderen sofort abgelehnt zu werden.

Beide Techniken dienen dazu, Unterschiede zwischen der erwarteten und der tatsächlichen Reaktion von Personen zu reflektieren. Das stärkt langfristig das Vertrauen in andere.
Ein Schema für Beziehungen
Ein weiterer Baustein von CBASP ist der Kiesler-Kreis. Er wurde von dem amerikanischen Psychologen Donald Kiesler (1933–2007) entwickelt und beschreibt ganz allgemein, wie sich zwischenmenschliches Verhalten gegenseitig beeinflusst (siehe »Beziehungsschema«). Mit Hilfe des Kiesler-Kreises lassen sich Fragen beantworten wie »Was löse ich beim Gegenüber aus?« oder »Wie reagiert derjenige, wenn ich dies oder jenes sage oder tue?«

Manche Verhaltensweisen rufen ähnliche Reaktionen hervor: Lächelt mich eine entgegenkommende Person an, lächle ich meist freundlich zurück. Das gilt auch im Negativen – so wie freundliches Verhalten meist Freundlichkeit hervorruft fördert feindseliges Verhalten Feindseligkeit beim anderen. Freundliches Verhalten stiftet Nähe, feindseliges führt dagegen zu Distanz. Im Kiesler-Kreis wird dies auf der horizontalen Achse der »Zugehörigkeit« beschrieben.

Dagegen rufen jene Verhaltensweisen auf der vertikalen Achse der »Kontrolle« eher entgegengesetzte Reaktionen hervor. Agiert eine Person etwa selbstbewusst und dominant, geht sie also aktiv oder fordernd in eine Situation hinein, führt dies bei anderen meist zu einer unterwürfigen, verschlossenen oder passiven Reaktion. Wenn sich jemand hingegen so unterwürfig verhält, kommt es oft dazu, dass andere über denjenigen bestimmen und ihn dominieren.

Die beiden Achsen des Kiesler-Kreises lassen sich auf verschiedene Weise kombinieren, wodurch Mischformen entstehen. Möchte der Chef etwa, dass seine Mitarbeiter ein Projekt bald beenden, wird er beim Meeting freundlich, aber bestimmt darauf pochen. Er dürft zugewandt und lächelnd klarmachen, was er will, ohne allzu sehr auf Rückmeldungen des Teams einzugehen. Dies entspricht dem »freundlich-dominanten« Verhalten im Kiesler-Kreis.

Gesunde Personen können sich innerhalb des Kiesler-Kreises relativ frei bewegen und ihr Verhalten flexibel anpassen. Es ist wichtig, sich je nach der Situation und den eigenen Zielen unterschiedlich justieren zu können. Studien weisen darauf hin, dass sich chronisch
depressive Menschen meist verschlossen oder feindselig verhalten. Entsprechend reagieren andere eher abweisend auf sie. Der Kiesler-Kreis hilf den Betreffenden, diese Mechanismen zu erkennen und – im Rahmen einer so genannte Situationsanalyse – flexibler im Umgang mit anderen zu werden.

Was bedeutet das konkret? Im ersten Schritt lernt Julia, eine tatsächlich erlebte Situation nüchtern aus der Beobachterperspektive zu beschreiben. Zum Beispiel: »Ich rufe meine Mutter an und erzähle ihr von einer Prüfung, die ich nach langem Bangen im zweiten Anlauf bestanden habe. Meine Mutter sagt, ich hätte mich schon beim ersten Mal mehr anstrengen können. Ich sage daraufhin nichts und lege einfach auf.«

Anschließend wird Julia motiviert, jene Gedanken zu benennen, die sie in der Situation hatte (»Ich bin ein Versager«), und ihre Reaktion im Kiesler-Kreis einzuordnen (feindselig-unterwürfig). Nachdem das Ergebnis gemeinsam festgehalten wurde, überlegt Julia, wie sie sich gewünscht hätte zu reagieren.
Neue Interaktionsmuster finden und einüben
Nach einigem Nachdenken erklärt sie: »Ich möchte meiner Mutter sagen, dass ich zufrieden bin mit meiner Prüfung und dass sie mich nicht mehr so schlecht machen soll.« In der folgenden Lösungsphase erarbeitet Julia mit ihrer Therapeutin hilfreiche Gedanken und übt in Rollenspielen das gewünschte Verhalten. Schließlich formuliert sie für sich als Take-Home-Message: »Niemand ist
perfekt – auch ich nicht. Ich will meiner Mutter endlich sagen, dass sie aufhören soll, mich schlecht zu machen!«

Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2016 belegte, dass CBASP bei der Behandlung chronischer Depression recht gut anschlägt. Eine von uns (Eva-Lotta Brakemeier) sichtete dafür gemeinsam mit Kollegen sechs randomisiert-kontrollierte Wirksamkeitsstudien mit insgesamt rund 1500 Patienten. CBASP war hier sowohl den üblichen Behandlungen als auch der interpersonellen Therapie (IPT) überlegen und scheint unter dem Strich ähnlich wirksam zu sein wie Antidepressiva. Die stärksten Verbesserungen traten auf, wenn CBASP mit Medikamenten kombiniert wurde.

Aktuelle Studien bestätigen dieses Ergebnis und weisen zudem darauf hin, dass CBASP vor allem Patienten mit frühkindlichen Traumata zu empfehlen ist. Bei schweren chronischen Verläufen ist ein stationärer Aufenthalt in einer spezialisierten CBASP-Station zu empfehlen.

Julia hat von der ambulanten Therapie gut profitiert. Sie kann sich gegenüber ihrer Mutter nun selbstbewusster behaupten, hat weniger Versagensängste und fällt seltener in ein Tief. Sie ist auch besser in der Lage, sich um ihren Sohn zu kümmern. Kürzlich hat sie sogar einen Vater auf dem Spielplatz kennen gelernt, der sie zum Abendessen einlud. Sie sagt, dass sie dabei sei, ihre innere Mauer zu überwinden.

 

K U R Z  E R K L Ä R T :
WA S  I S T  E I N E  D E P R E S S I O N ?
Laut dem aktuellen internationalen Diagnose-Handbuch ICD-10 müssen für eine klinische Depression mindestens zwei der folgenden Kernsymptome über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen vorliegen:
„ niedergedrückte Stimmung
„ Verlust von Interessen und Freude
„ erhöhte Ermüdbarkeit
Außerdem sind bei einer schweren Depression mindestens vier, bei einer leichten zwei der folgenden Kennzeichen gegeben:
„ vermindertes Konzentrationsvermögen
„ vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
„ Gefühle der Schuld und Wertlosigkeit
„ pessimistische Sicht auf die Zukunft
„ Suizidgedanken
„ Schlafstörungen
„ reduzierter Appetit
Von chronischer Depression sprechen Fachleute, wenn die Symptome mehr als zwei Jahre anhalten.

 

Q U E L L E N
Brakemeier, E.-L., Buchholz, A.: Die Mauer überwinden: Wege aus der chronischen Depression. Beltz, 2013
Brakemeier, E.-L. et al.: Praxisbuch CBASP. Behandlung der chronischen Depression und Modifiationen der
traditionellen CBASP-Thrapie.
Beltz, 2021
Brakemeier, E.-L. et al.: Overcoming treatment-resistance in chronic depression: Outcome and feasibility of the cognitive
behavioral analysis system of psychotherapy as an inpatient treatment program. Psychotherapy and Psychosomatics 84, 2014
Charlson, F. et al.: New WHO prevalence estimates of mental disorders in conflct settings:
A systematic review and meta-analysis. Th Lancet 394, 2019
Murphy, J. A., Byrne, G. J.: Prevalence and correlates of the proposed DSM-5 diagnosis of chronic depressive disorder.
Journal of Affctive Disorders 139, 2012
Negt, P. et al.: Th treatment of chronic depression with cognitive behavioral analysis system of psychotherapy:
A systematic review and meta-analysis of randomized-controlled clinical trials.
Brain and Behavior 6, e00486, 2016
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1805822